
Agenturen auf dem Prüfstand
Interview mit Roger Wermelinger, Ausgabe August/September 2025
Die Agenturlandschaft Schweiz ist im Wandel. Rasante technische Entwicklungen und weltpolitische Unsicherheiten beeinflussen die Branche. Wie ordnet das der neue Präsident des Agenturnetzwerks ASW ein?
Roger, was hat dich dazu bewogen, das Amt des Präsidenten des Agenturnetzwerks ASW zu übernehmen?
Es macht mir Spass, Neues anzupacken und zusammen mit Gleichgesinnten die Herausforderungen zu meistern, die unsere Branche momentan grundlegend verändern.
Welche Veränderungen meinst du?
Die kommerzielle Kommunikation läuft Gefahr, sich selber zu marginalisieren. Wenn ich allein daran denke, wie viel Content jeden Tag ins Universum gepulvert wird, kann ich mir nicht vorstellen, wer das alles lesen, hören oder anschauen soll und – vor allem – was davon haften bleiben könnte.
Es war noch nie so einfach, Content automatisiert generieren zu lassen…
Genau, hier liegt eine der grossen Herausforderungen. Je mehr Unternehmen in dieselbe Richtung laufen und dieselben Tools nutzen wie ihre Mitbewerber, umso austauschbarer werden die kommunizierten Inhalte.
Unser Geschäftsführer hat es einmal so beschrieben: «Mehr als 90 Prozent aller Display Ads bestehen aus einer beliebigen Kombination der sechs Worte Jetzt, Heute, Sofort – Entdecken, Profitieren, Geniessen». Das bringt es auf den Punkt.
Was schliesst du daraus?
Es fehlen Gassenhauer mit Ecken und Kanten, es gibt kaum mehr Marken, die sich über abgrenzende Werte klar positionieren. Das Problem verorte ich primär beim vorauseilenden Gehorsam des C-Levels: Alle wollen «konform» sein und – um Himmels Willen – ja niemanden ausschliessen. Aber wer sich nicht abgrenzt, kann keine treuen Communities begründen.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ein bekanntes Beispiel ist Harley Davidson. Eine Harley kaufen sich primär Jungs jenseits der 50 mit lückenlosem Bartwuchs, Notvorrat auf den Rippen und einem feinen Gehör für modifizierte Auspuffanlagen. Deshalb musste Harley ihre Woke-Agenda im Sommer 2024 zu Grabe tragen: Die Verkaufszahlen waren eingebrochen und der Widerspruch aus der verschworenen Gemeinschaft der Harley-Fahrer (mehrheitlich ohne *innen) war lauter als ein Endrohr ohne Schalldämpfer.
Was schliesst du daraus?
Keine Marke der Welt kann es allen Menschen auf diesem Planeten gleichzeitig recht machen. Es braucht den «Mut zur Lücke», verbunden mit dem Risiko, dass sich eine Aktie nicht so entwickelt, wie sich das die Teppichetage aus Eigennutz wünscht.
Was heisst das für die Mitglieder des Agenturnetzwerks ASW?
Unsere Mitglieder werden glücklicherweise nicht aus London oder New York gesteuert. Das Agenturnetzwerk vereint Macherinnen und Macher, die ihr eigenes Unternehmen führen und Verantwortung für ihre Mitarbeitenden übernehmen. Zudem sind die grosse Mehrheit unserer Auftraggeber keine Manager, sondern ebenfalls Unternehmer mit einer klaren Haltung. Als solche dulden sie weder Personenkult noch Hofnarren oder Heerscharen von unterbezahlten Praktikanten, sie wollen solide Arbeit und über viele Jahre dieselben Ansprechpartner.
Wo siehst du momentan die grössten Herausforderungen unserer Branche?
Zurzeit ist das die Implementierung von KI in unsere Arbeitsprozesse. Die erste KI-Euphorie ist verdampft, nun geht es um Handfestes und Praktikables. Wir alle haben gelernt, dass KI kein Zauberer ist, sondern lediglich ein Assistent. Das gilt es jetzt mit den zum Teil überzogenen Erwartungen von Nichtwissenden in Einklang zu bringen, auch auf Seite unserer Auftraggeber.
Was leistet das Agenturnetzwerk ASW in dieser Hinsicht?
Wir haben schon vor drei Jahren die Branchenregeln zum Umgang mit KI in kreativen Berufen definiert und publik gemacht und vor rund zwei Jahren unter ki.asw.ch eine KI-Orientierungshilfe aufgeschaltet. Beides ist öffentlich zugänglich und unser Beitrag zu einem praktikablen und rechtssicheren Umgang mit KI in der gesamten Branche.
Gibt es weitere Herausforderungen?
Wir müssen aus dem Schatten eines Monsters treten, das wir uns selber gebaut haben. Während vielen Jahren hat die Mehrheit der Branche die Unfehlbarkeit von Zahlen (in realtime, versteht sich) auf den Schild gehoben und dabei die Emotionen von Menschen grösstenteils ausgeblendet.
Wir müssen uns wieder vermehrt dafür einsetzen, dass wir die Kunden unserer Auftraggeber nicht bloss erreichen, sondern mit unseren Botschaften auch berühren.
Wir können die Jagd nach mehr Reichweite im Null-Komma-Irgendwas-Bereich also weitgehend einstellen und uns wieder auf das Wesentliche der kommerziellen Kommunikation konzentrieren: Auf herausragende Ideen, die Herzen berühren und flüchtige Erstkäufer zu Stammkunden (und *innen) werden lassen. Dafür braucht es Empathie und feines Gespür für die Zielgruppen. Das ist der gefreute Teil der Nachricht.
Und der weniger gefreute Teil?
Jetzt braucht es die Grösse, um den Umweg über die reine Zahlengläubigkeit einzugestehen und Besserung nicht nur zu geloben, sondern auch zu vollziehen.
Wird es im Zug der momentanen Veränderungen auch Verlierer geben?
Werfen wir einen exemplarischen Blick auf das Thema SEO und SEA. Zahlreiche Anbieter haben sich auf diese Tätigkeitsbereiche spezialisiert. Für diese könnte die Luft schon sehr bald ähnlich dünn werden wie auf dem Südsattel im Aufstieg auf den Mount Everest. Suchmaschinen verlieren rasant an Bedeutung. Je nach Studie vertraut schon heute fast die Hälfte der Generation Z einem KI-Tool wie ChatGPT mehr als dem Branchenkrösus Google.
Können mittelständische Agenturen die anstehende Transformation überhaupt meistern?
Schnellboote sind immer wendiger als grosse Tanker. Zudem haben mittelständische Agenturen den Vorteil, dass sie sich nicht gegenseitig pitchen müssen, sondern in der Regel direkt beauftragt werden und überall dort mit anderen Mitgliedern des Agenturnetzwerks ASW zusammenarbeiten können, wo diese über Wissen verfügen, das hausintern fehlt. So kann eine typische Netzwerk-Agentur organisatorisch schlank bleiben und gleichwohl eine grosse Leistungsbreite abdecken.
Können solche Zusammenarbeitsformen überhaupt funktionieren?
Sie tun es, sogar sehr gut, wobei das gegenseitige Vertrauen immer das tragende Element ist. Wir orientieren uns alle an denselben Grundwerten eines fairen Miteinanders und sehen uns nicht als direkte Konkurrenten, was vieles einfacher macht. Darüber hinaus haben wir ein internes Netzwerk-Agreement. Dieses stellt sicher, dass die Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehreren Agenturen sowohl fair abläuft als auch rechtssicher ist.
Mit welchen Meilensteinen möchtest du nach deiner Amtszeit in Erinnerung bleiben?
Wir leben keinen Personenkult und ich möchte auch keinen begründen. Mir ist viel wichtiger, dass wir weiterhin eine Vereinigung von Macherinnen und Machern sind, die gemeinsam die Zukunft mitgestalten, die einander vertrauen und die zusammen eine Menge Spass haben. Wenn ich diese einzigartigen Groove dereinst weitergeben kann und wir zwischenzeitlich ein paar weitere inhabergeführte Agenturen in unseren Reihen begrüssen dürfen, habe ich etwas Einzigartiges nicht zerstört. Das ist mehr, als andere Präsidenten auf ihrer wunderschönen grossen Agenda haben.

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Beitrag im «Persönlich» Ausgabe April 2025 von Andy Ruf